25.10.2024
Besinnungswort zum 27.10.2024

von Almut Ehrhardt

Jesus spricht: »Ihr wisst, dass den Vorfahren auch gesagt wurde: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn!‹ Doch ich sage euch: Leistet keine Gegenwehr, wenn man euch Böses antut! Wenn jemand dir eine Ohrfeige gibt, dann halte die andere Wange auch noch hin! (Bergpredigt Matth. 5, 38f) Da mutet Jesus uns ganz schön was zu! Liebt eure Feinde! Wenn einer dir eine Ohrfeige gibt, dann halte die andere Wange auch hin. Wie naiv ist dieser Jesus eigentlich? Die Realität sieht doch ganz anders aus. Schon im Kindergarten bekommen die Kleinen gesagt: du musst dich wehren, lass dir nichts gefallen. Und im Großen erleben wir die Konflikte überall um uns her: Mit Molotowcocktails fängt es an und am Ende werden Atomsprengköpfe stationiert. Und Jesus redet von Feindesliebe? Ja, genau das macht er, eben weil er realistisch ist und weiß, wohin es führt, wenn „Auge um Auge“ die Welt regiert. Meiner Meinung nach ist es Aufgabe der Kirche, in Zeiten kriegerischer Konflikte die Bergpredigt mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Diplomatie ist Sache der Politiker, die Sache der Kirche ist die Feindesliebe. Erst wenn wir uns als Menschen und nicht als Feinde wahrnehmen, können wir unter uns Frieden schaffen auf der Erde. Natürlich werden wir in unseren Gottesdiensten für die Opfer beten. Und wer betet für die Täter? Was geht in ihnen vor, wenn sie erkennen, welch große Schuld sie auf sich geladen haben, wenn sie erkennen, dass sie ihr Leben selbst durch ihre Taten kaputt gemacht haben? In den 1990er Jahren versank das afrikanische Land Ruanda in unvorstellbarer Gewalt. Angehörige der Hutu-Mehrheit ermordeten etwa 800.000 Menschen, meist aus der Tutsi-Minderheit. Paul Kagame, seit 2000 der Präsident Ruandas, versucht das Land zu versöhnen. Ist das überhaupt möglich, fragte man sich. Mit Gerichtsverfahren, Reparationszahlungen, Dorfprojekten und Gruppentherapien für Täter und Opfer gemeinsam wurde schon viel erreicht. Die Täter erkannten, welches Leid sie zugefügt hatten, dass sie nichts rückgängig machen können und dass sie bis an ihr Lebensende mit der Schuld leben müssen. Sie baten teilweise auf Knien um Vergebung. Die Opfer begannen, in den Tätern auch Menschen zu sehen. Vergebung ist dadurch entstanden, nicht immer, aber es gibt Hoffnung, dass noch mehr möglich ist. Wenn eine Frau aus Ruanda dem Mörder ihrer Schwester vergeben kann, sollte es mir da nicht gelingen, einem Mitmenschen eine Lüge oder eine andere Gemeinheit zu verzeihen?

Wenn Jesu Bergpredigt nicht zur zahnlosen Sonntagspredigt verkommen soll, müssen wir uns ernsthaft mit Feindesliebe befassen, müssen wir beginnen, in unseren Feinden die Menschen zu sehen, die Wünsche und Bedürfnisse haben, genau wie wir auch. Was Jesus fordert ist anstrengend und radikal. Aber Jesus ist Realist: Er weiß, dass wir Freunde und Feinde haben. Und dass es natürlich einfacher ist, seine Freunde zu lieben, das kann schließlich jeder. Ich glaube, dass Feindesliebe die Liebe Gottes ist. Jesus hat es uns vorgemacht, er sagte am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn Sie wissen nicht was sie tun.“ Aber stehen wir nicht als Schwächlinge oder Loser da, wenn wir es unseren Feinden nicht mit gleicher Münze heimzahlen? Und wer will schon der Loser sein? Die Kunst, das Böse ins Leere laufen zu lassen, lässt den Feind ganz schön beschämt dastehen. Vielleicht kann man so der Gewaltspirale begegnen. Und man muss ja nicht von jetzt auf gleich den unsympathischsten Menschen, den man kennt, umarmen. Wenn man diesem Menschen mit Respekt und Höflichkeit entgegengeht, ist es ein Anfang. Und wenn ich in meinem Feind ein geliebtes Kind Gottes erkenne, dann ändert sich meine Sichtweise. Das ist schwer, ich weiß, aber es ist einen Versuch wert, nachher, morgen, jeden Tag neu. Amen