30.03.2020
22.März 2020
Predigt zum Sonntag Lätare am 22. März 2020 von Pfarrerin Kerstin Gommel, Suhl
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle,
die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie
traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt
trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich
trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so
spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie
einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen
überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird
man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will
euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an
Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet's sehen und euer Herz
wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann
wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und
den Zorn an seinen Feinden.
Jesaja 66,10-14
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Wenn ich ein kleines Kind im Kinderwagen sehe – besonders,
wenn ich selbst gerade viel Stress habe - dann denke ich
manchmal: Ach, Baby müsste man sein!
Trinken, schlafen, ein bisschen durch die Gegend gucken und
wieder trinken, schlafen…
Keine Sorge um die Welt.
Wenn es gut versorgte Babys sind, Babys, die geliebt werden,
von Mama, Papa, Oma, Opa, Onkel, Tante, dann denke ich: Ach,
haben die es gut!
Jesaja redet, als wären wir ein Baby: Auf dem Arm wird man
euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.
„Man“: Da ist Gott gemeint. Wir: Wir sind das Baby.
ER trägt uns auf dem Arm, wiegt uns auf den Knien.
Nein – eigentlich: sie trägt uns.
Das Bild, das dahinter steht meint nicht „Arm“, sondern „Seite“.
Da ist an eine Mutter gedacht, die ihr Kind auf der Hüfte trägt.
Vielleicht im Tragetuch.
Und es auf den Knien wiegt, bis es juchzt vor Freude.
Gott wie eine Mama.
Baby müsste man sein!
Heute ist der Sonntag „Freuet euch!“
Die Sonntage der Passionszeit haben Namen, die bestehen aus
ganzen Sätzen.
Heute ist der Sonntag „Lätare“ – und das heißt: „Freuet euch!“
Eigentlich wollten wir heute mit den Konfirmanden darüber einen
Gottesdienst gestalten.
Wir wollten über Freude reden. Wir wollten Witze erzählen,
damit die Gemeinde mal was zu lachen hat. Freude schöner
Götterfunken…
Und es ist so anders gekommen.
Baby müsste man sein.
Wir sind keine Babys.
Wir sind erwachsen.
Gerade in diesen Tagen wird von uns verlangt, dass wir
vernünftig sind.
Heute früh lese ich, wie Hunderttausende Briten angesichts der
Schulschließungen in die Küstenorte ans Meer pilgern. Fish’n-
Chips-Buden, Andenkenläden, Karavanparks lassen sich den
Verdienst nicht entgehen. Das ist nicht vernünftig. Da rächt es
sich, wenn ein Land keine vernunftgesteuerte Regierung hat.
Wir müssen vernünftig sein in diesen Tagen. Es hilft nichts
anderes.
Aber es ist hart, weil wir nicht wissen, wie es ausgeht.
Weil wir nicht wissen, wie es enden wird.
Ob es hilft, dass wir uns voneinander fernhalten.
Wie wir daraus hervorgehen werden…
In den Worten Jesajas ist viel vom Saugen die Rede.
Und ich sauge tatsächlich seine Worte auf.
Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten
ihres Trostes.
Eigentlich heißt es „Tröstungen“, Gottes Tröstungen.
Nach denen sehne ich mich.
Von ihnen sagt der Psalm 94,19 (nach meiner Übersetzung): In
der Fülle meiner widersprüchlichen Gedanken sind mir deine
Tröstungen eine Lust.
So geht es mir.
So viele Gedanken im Kopf.
Manchmal erfreuliche – wenn ich an die Zeichen von Solidarität
und Zusammenhalt denke.
An den Humor, der aufkommt in Witzen und Karikaturen – ja
auch das ist wichtig, gerade in diesen Zeiten!
Aber andere Gedanken sind so sorgenvoll, auch bei mir. Und sie
sind so unübersichtlich viele. Und ich kann‘s schon nicht mehr
hören. Und doch schaue ich wieder auf die Seite der Johns-
Hopkins-Universität nach den neuesten Zahlen. Und bin entsetzt,
dass es schon wieder so viel mehr Kranke und Tote sind.
In der Fülle meiner widersprüchlichen Gedanken sind mir deine
Tröstungen eine Lust.
In der Fülle meine widersprüchlichen Gedanken klingt eine
Stimme klar und rein heraus.
Und ich sauge ihre Worte der Tröstungen in mich auf wie ein
trockenes Land.
Ich breite aus den Frieden wie einen Strom…
Das ist ein Bild: der Friede Gottes ist ein Fluss – aber der fließt
im Moment nicht an meinem Haus vorbei. Bis Gott ihn umlenkt.
„Ich lenke meinen Frieden um, so dass er dich erreicht.“
Gott baut ein neues Flussbett, damit der Frieden sich auch bei
mir ausbreiten kann.
Wenn Jahr für Jahr der Nil über die Ufer getreten ist, dann
bedeutete das damals nicht bedrohliche Flut, sondern
fruchtbarer Schlamm. Da konnte endlich etwas wachsen in der
Wüste.
Und dann kommt dasselbe Bild noch einmal mit einem
„überströmenden Bach“.
Für Palästina ist da an ein Wadi gedacht.
Das ist ein Canyon, ein Flussbett, das nicht immer Wasser führt.
Den größten Teil des Jahres ist es ein trockenes Tal, wo nichts
wächst. Aber wenn die Regenzeit kommt, dann füllt sich das Tal
mit Wasser und dann wird alles grün. Und es sieht aus wie ein
Wunder, weil man nicht denken würde, dass da irgendwas im
Boden überlebt haben kann. Aber es hat überlebt und jetzt blüht
es auf. Die Wüste blüht.
Und natürlich: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter
tröstet. Baby müsste man sein…
Aber manchmal schreien die Babys auch.
Daran sieht man, dass auch Babys Kummer haben.
Und der ist – gemessen an dem, was sie aushalten können –
vermutlich nicht kleiner, als unserer.
Das ist so, wenn man Mensch ist – von der ersten Minute an.
Da hat man manchmal Kummer.
Da hat man manchmal Angst.
Da denkt man manchmal, nichts geht mehr.
Aber es ist auch Trost da.
Von der ersten Minute an bis zur letzten.
Wir leben aus diesem Trost.
Inmitten aller Stimmen klingt diese Stimme des Trostes heraus,
wie ein klarer Glockenton,
wie ein frischer Wind,
wir ein plätschernder Bach.
Und wir werden stark, diesen Tag zu bestehen.
Und die Tage danach auch.
Und der Friede Gottes, der unsere Vernunft übersteigt, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.